Jürgen Kuhlmann

Hoffnung auch für Selbstmörder

Liebe Frau A.M.,

was ist die Botschaft der katholischen Kirche an die Eltern Ihres Enkels, der sich das Leben genommen hat? Da ich die näheren Umstände nicht kenne, kann dies kein persönlicher Brief sein, nur der Versuch einer theoretischen Auskunft.

1) In der heutigen Zeit verweigert die katholische Kirche auch Selbstmördern nicht mehr das kirchliche Begräbnis. Sie werden also genau wie andere getaufte Christen in geweihter Erde begraben. In der Beurteilung des Suicids ist ein Umdenken eingetreten, da man zu der Überzeugung gekommen ist, dass man die Auslöser für einen Selbstmord sehr häufig in psychischen Krankheiten und vor allem schweren Depressionen zu suchen hat.

2) So wichtig diese Akzent-Umkehr bei der Beurteilung eines tatsächlichen Selbstmords ist, gilt es doch einzusehen, dass sich das grundsätzliche Urteil der Kirche nicht geändert hat. Auch früher war guten Seelsorgern klar: Lebende wissen nicht, was sich beim Sterben ereignet. Einer betrübten Mutter, deren Sohn sich von einer Brücke gestürzt hatte, soll der heilige Don Bosco versichert haben, dass zwischen Brückenrand und Fluss Gott sehr viel Zeit hat. Und auch heute glauben wir: Gott will nicht, dass ein Mensch sein Leben eigenmächtig wegwirft. Wer es trotzdem tun und mit dieser Schuld vor seinen Richter treten will, dem verschweigt die Kirche nicht die ewige Gefahr, in die er sich stürzt. Diesen notwendigen Ernst bedeutet die frühere - und, wer weiß, vielleicht auch wieder künftige? - Strenge.

3) Im Tiefsten ist dieser Gegensatz ein Ausdruck der göttlichen Lebens-Spannung, die auch in uns leben will. Weil Gott zum einen die LIEBE ist, zum andern drei-einig, deshalb besteht unser Heil

a) im Annehmen

b) im Mitleben

der drei innergöttlichen Liebesweisen, die sich ewig vollziehen, aber von uns - je zeitlich sich entschließenden Wesen - immer als vorher und nachher gedacht werden müssen (man stelle sich einen Rhythmus-Kreis aus sechs Takten vor, beginnend - gegen den Uhrzeiger - oben links, und mit dem Entschluß als seiner Mitte):

Die (1) ursprünglich schenkende [Bild: Madonna mit Kind] und (6) zuletzt tröstlich bergende [Bild: Pietà] mütterliche Huld IHRer, der Heiligen Ruach, Agape, Caritas, Gischt (das männliche Geschlecht des Hl.Geistes im Westen paßt schlecht).

Der (2) vorher beauftragende und (5) nachher beurteilende, richtende väterliche Anspruch DEINer, unseres Gottes und Herrn.

Die (3) vor dem Entschluß die eigenen Möglichkeiten erfassende und nach ihm (4) sich verwirklichende freie Selbstliebe MEINer, des göttlichen SINNes (Logos), der nicht nur in Jesus Mensch geworden ist sondern (als Haupt d.h. - damals unsagbar - das Ich seines Leibes, der Kirche) in jeder und jedem von uns Mensch werden will.

Im Bild der Familien-Analogie sehen die drei Pole so aus:

a) DU, Vater, bist bedingte Liebe: Wenn ich Deinem Willen gehorsam bin, achtest Du mich als Deinen Sohn oder Deine Tochter. Wenn nicht, trifft mich Dein Zorn. Vor Deinem Antlitz darf ich mein Leben nicht wegwerfen. Auch Ignatius von Loyola war versucht, sich in den Tod zu stürzen, aber »conociendo que era pecado« (erkennend dass es Sünde wäre) tat er es nicht, nur deshalb gibt es Jesuiten. Für wie viele andere mag das Freitod-Tabu schon lebensrettend gewesen sein? Dies war die gute Funktion des Verbots einer christlichen Beerdigung von Selbstmördern; ich bin nicht gewiss, dass die aktuelle Lockerung nur gute Fogen hat. Allerdings drückt sie deutlicher unsere letztlich entscheidende Hoffnung aus:

b) Als mütterliche Liebe nimmt SIE ein verzweifeltes Kind, auch Ihren armen Enkel, zuletzt erbarmend in die Arme und schenkt ihm die Ruhe, die er so ersehnt hat, nämlich das Leben, das er sich nehmen wollte (welch ein Doppelsinn!) - aber aus eigener Kraft nicht gefunden hätte.

c) Als freies ICH traut mancher sich diesen ungeheuren Sprung, z.B. auch der Christ Jochen Klepper . Auch solch »heidnischer« Mut muss kein Irrtum sein. Nicht nur wir, auch Gott wünscht sich freie, selbständige Kinder.

4) Wie steht es mit der Höllenangst, ist sie krankhaft, eine Kollektivneurose der Christenheit? Mir scheint: ja und nein. Ja: bei den vielen, die durch einseitige Verkündigung in sie gestoßen werden, ohne dass dann auch das Evangelium von Jesu Sieg über Hölle und Tod ihr Herz trifft. Denken wir an Mütter, die keine frohe Stunde mehr haben, seit sie ein "in Todsünde" gestorbenes Kind in der Hölle vermuten müssen. Verglichen mit ihrem trostlosen Seelenzustand wirkt die ruhige Selbstgewissheit eines Cicero beneidenswert. Wie er seinem Tod entgegensieht, lässt den zuweilen gehörten Wunsch "ach hätte es doch nie ein Christentum gegeben!" plausibel erscheinen: "Erbärmlich wäre der Alte, der nach so langer Zeit immer noch nicht eingesehen hätte, dass der Tod verachtet gehört. Denn an dem liegt entweder gar nichts, falls er das Gemüt völlig auslöscht, oder er ist sogar zu wünschen, falls er es anderswohin geleitet, wo es ewig sein wird. Ein Drittes ist gewiss nicht zu finden." [Cato Maior, Über das Alter, XIX,66]

Doch, man hat ein Drittes gefunden. Es ist die Hölle. Vergleichen wir den aufgeklärten Heiden jedoch, statt mit den Opfern klerikaler Inkompetenz, mit mündigen Christen wie Franziskus und Albert Schweitzer, Martin Luther King und Mutter Teresa, dann darf uns Dank erfüllen über den Einbruch des Absoluten in die Welt. Wer vom Bild des Ewigen Richters erst in Höllenangst getrieben und gerichtet: innerlich hingerichtet wird um dann jedoch, indem des Richters Strenge sich als Anspruch eines Freundes offenbart, neu gerichtet: zum engagierten Mitarbeiter an Gottes Reich der Liebe aufgerichtet, hergerichtet zu werden: er oder sie kennt Höllenangst nicht mehr als Zustand, nur als oft erneuten Schrecken, der dann auch die Hoffnung in neue Tiefe treibt. Unvergesslich der Moment, da ich in der Bibliothek des Germanikums bei Urs von Balthasar las, dass der Glaube weder vom doppelten Ausgang der Geschichte noch von der Allversöhnung weiß, so dass ein Katholik zwar nicht an der Möglichkeit der Hölle zweifeln darf, wohl aber mag er hoffen, dass die Hölle leer ist. [Mehr]

5) Der dreieinige Rhythmus des Heils bestimmt - wie zu erwarten - die ganze Verkündigung der Kirche. Viele Problemfelder werden nur so einigermaßen verständlich. Einige Beispiele:

a) In der Abtreibungsfrage tritt die Kirche nach Gottes Gebot klar für das beginnende Menschenkind ein, das sich nicht wehren kann. Trotzdem wird sie nach dessen Vernichtung auch die hart geknickte junge Ex-Mutter nicht zerbrechen. Nicht wenige Priester dürften aus der Beichte den traurigen Bericht einer Frau kennen, wie das ermordete Wurm ihr erscheint und um sein geraubtes Leben klagt. Dann ist Jesu Wort an die Ehebrecherin am Platz: »Ich verurteile dich nicht. Geh hin und sündige von jetzt an nicht mehr« (Joh 8,11).

b) Thema Scheidung: "Die Kirche ist ... Zeichen" (Weltkatechismus § 775). Ein Zeichen verlangt Klarheit; verwischte, unentzifferbare Zeichen taugen nichts. Nie vergesse ich mein Gespräch mit Pater Hürth SJ, anfangs der 60er Jahre in Rom. Er galt als der ehrwürdigste katholische Moraltheologe, hatte an der Ehe-Enzyklika Pius XI. einen Hauptanteil gehabt. Mit schlohweißem Haar saß er mir gegenüber und sagte wörtlich: "Wer leugnet, daß es Ehen gibt, die keine Ehen mehr sind, der leugnet Tatsachen." Dennoch sei eine Scheidung ausgeschlossen: Gott sieht diese Ehen, die keine Ehen mehr sind. Er sieht aber auch die vielen jungen Eheleute, die sich miteinander auf den Weg machen. Bald kommen die Krisen. Wüßten die beiden nun, daß eine Scheidung möglich ist, dann würde die Möglichkeit schnell die Wirklichkeit herbeiführen, es gäbe kein Halten mehr. Weil sie aber wissen, daß harte Treue der einzige Ausweg ist, deshalb reifen sie zu einer glücklichen Familie. Das alles bedenkt Gott. Und deshalb gibt es in der wahren Kirche keine Ehescheidung, aus Liebe zu den vielen gesunden Ehen. Soweit P.Hürth, wenige Monate später ist er gestorben. Von meinem Vater wurde mir seine Sicht bestätigt: Hätten wir nicht beide gewußt, daß eine Scheidung unmöglich ist, wären wir nicht beisammen geblieben. - Das heißt doch wohl, daß die Scheidung moralisch ähnlich unmöglich ist wie der Mord. Auch eine Ehe ist ein menschliches Lebewesen. Aus dem absoluten Verbot des Mordes folgt aber nicht, man solle den Tod des Ermordeten nicht gelten, die Leiche vielmehr unbestattet im Wohnzimmer verwesen lassen, wie es vielen sogenannten katholischen Ehen ergangen ist und ergeht. Siehe hier den großartigen Artikel US-amerikanischer Kirchenjuristen

c) Homosexuelle Praxis: Mit persönlichem Grund bin ich dem Tabu dankbar, hüten wir uns jedoch davor, andere zu verdammen!

In der Hoffnung, Ihnen ein paar hilfreiche Gedanken mitgeteilt zu haben, grüße ich Sie mit herzlichen Wünschen für das neu begonnene Jahr.

Nürnberg, 5. Januar 2008


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