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Scheinbar stehen wir vor einem Dilemma: Entweder hat das Christentum eine besondere Aufgabe in der Welt oder nicht. Wenn nein, geht es mit Recht zugrunde. Wenn ja, verfehlt
es sich gegen den Geist seines Stifters; denn Jesus hat den Auserwähltheitsdünkel seines Volkes verworfen. Alle Menschen liebt Gott; nicht der rechtgläubige Priester ist Vorbild, sondern der Samariter! Den guten Klang
dieses Namens müssen wir vergessen, wenn wir das Gleichnis recht verstehen wollen: heute in Deutschland erzählt, würde es vielleicht von einem moslemischen Pakistani handeln. Wenn es Jesus also auf die besondere
Glaubensfarbe gerade nicht ankommt, was können die Christen dann für eine haben? Haben sie aber keine - gleichen sie dann nicht dem schalen Salz, das man wegwirft? Wie können wir »das Licht der Welt« sein, wenn wir
nicht anders als die übrigen sind - sind wir aber anders als alle Welt, wie entgehen wir dann dem Hochmut? Im Licht, so glaube ich, hat der Schöpfer die Lösung dieses Heilsrätsels versteckt. Wie
jeder Regenbogen zeigt, ist im Sonnenlicht eine bunte Fülle enthalten. Nur deshalb können wir eine sonnige Blumenwiese bewundern. Ist auch Weiß eine Farbe? Ja; denn Gänseblümchen leuchten anders als Gras und Mohn. Aber
auch nein; denn das weiße Licht ist die einfache Summe aller bunten Farben, mithin zu keiner ein Gegensatz. Deshalb ist das Gänseblümchen ein genaues Symbol der Kirche. Bescheiden blüht es neben Mohn und Kornblumen,
bildet sich nicht ein, es sei schöner als sie oder gar die einzige Schönheit. Wenn eines so dächte, würde es mit Recht von der ganzen Wiese ausgelacht. Trotzdem hat das schlichte Weiß eine besondere
Kraft, die den prächtigeren Buntfarben abgeht. Nehmen wir an, in einem Zimmer stehen Blumensträuße und Fruchtkörbe. Das Zimmer ist aber finster, keine Farbe kommt zu sich. Plötzlich fällt durchs Schlüsselloch ein
Sonnenstrahl. Was geschieht, wenn er einen Strauß Kornblumen anleuchtet, mit den Orangen daneben? Sie scheinen schwarz! Denn Blau verschluckt seine Gegenfarbe total. Fällt der Strahl auf Klatschmohn, dann erlicht jedes
Grün im Raum. Strahlt die Sonne aber unsere Gänseblümchen an, so bringt deren Licht jede andere Farbe zu ihr selbst. Die Kornblume leuchtet blau, rot der Mohn und gelb die Sonnenblume. Das Besondere der
Farbe Weiß ist es also, daß sie nichts Besonderes sein will, sondern als allgemeines Licht jede Farbe hell macht, nicht nur sich selbst. Lichtweiß war Jesu Kleid bei der Verklärung (Mt 17,2), schneeweiß des
Osterengels Gewand (Mt 28,3), weiße Kleider trugen die Gottesboten nach der Himmelfahrt (Apg 1,10). Ja: Für alle Menschen ist Christus gekommen, jegliche Wahrheit hat ihren Platz im Regenbogen von »Gottes
vielbunter Weisheit« (Eph 3,10 wörtlich). Dafür, daß dieser grundsätzliche Anspruch auch tatsächlich erfüllt wird, sollen die Christen sich einsetzen. Ich glaube: In unserer Epoche, da die krisengeschüttelte Erde
zu einem einzigen »globalen Dorf« zusammenwächst (oder -schrumpft?), ist dies die passende Glaubensgestalt. Keine Sinnfarbe darf allein strahlen, die anderen auslöschen wollen. Deshalb muß die Kirche sich,
einerseits, gegen allen ideologischen Fanatismus wehren, um sie her und in ihr selbst. Zum andern ist auch das allgemeine Weiß nicht die einzige Wahrheit. Fehlgeleiteter Ökumenismus wäre es, wollten wir die bunten
anderen weiß tünchen statt anstrahlen! Es ist keineswegs gleichgültig, welchem Glauben jemand anhängt. Wohl aber darf unsere Hoffnung vertrauen, daß in Gottes Augen jeder verantwortbare Glaube gleich gültig
ist. Eben weil beide, Herz und Auge, dem Leib wichtig sind, darf eine Herzzelle nicht auf einmal sehen statt pumpen wollen. Weil in einem Gemälde die bunten Farben alle gleich gültig sind, deshalb ist es nicht gleichgültig, ob das Rot in Lippe oder Auge leuchtet, das Grün aus Salat oder Haar. Dürfen wir aus bald zweitausend Jahren Kirchengeschichte schließen, daß es nicht Gottes Ziel ist, die ganze Erde kirchenweiß anzustreichen? Vielen Christen scheint: ja.
Nicht die einzige Wahrheit ist das Christentum, nur die einzige Wahrheit, die den anderen Wahrheiten gerecht werden kann. Keine nur monotheistische Religion kann die Wahrheitskerne von Atheismus und
Pantheismus ernstnehmen, ebensowenig wie diese einander oder die Religion. Das Christentum jedoch bleibt ein Dauergespräch zwischen gegensätzlichen Sinnfarben untereinander und mit dem sie zusammenhaltenden Weiß. Kein
Katechismus ist endgültig, die neueste Wahrheit muß sich von der ältesten kritisieren lassen und umgekehrt, das Eigene hat immer neu auf Gottes Stimme im Fremden gefaßt zu sein. Mag sein, daß jemand
jetzt bei sich denkt: Hohe Gedanken, nur leider alltagsfern, was nützen sie mir morgen? Deshalb erzähle ich eine wahre Geschichte. An einer Stelle hat das Prinzip des christlichen Weiß sich schon einmal spürbar
ausgewirkt. Ob die Kirche sich einst im Großen als erdumspannendes Prisma verstehen und vollziehen wird, steht bei ihrem Herrn. Im Grunde ist sie es schon lange, im Kleinsten hat sie sich bereits ausdrücklich so erlebt,
und zwar in Nürnberg zu Anfang der siebziger Jahre. Ein Grüppchen junger Christen nannte sich Prisma: Wie ein Prisma die Sonnenstrahlen in buntes Leuchten zerlegt, so wollte die Gruppe das irdische Medium sein, durch
das hindurch Gottes Heilslicht die Sonderfarben der Mitglieder zum Leuchten bringt. Spontan hat sich ein Ritus entwickelt: Man saß im großen Kreis; bei jedem der regelmäßigen Treffen war eine oder einer
»in der Mitte«. Nicht buchstäblich, als Mitte galt einer der Punkte des Kreises; doch wer dort saß, hatte die Perspektive des Abends zu bestimmen. Die anderen mußten sich auf die Mitte konzentrieren, sollten möglichst
intensiv spüren, welche einmalige Farbgestalt da vor ihnen saß. Widerspruch war verpönt, es ging nicht um Diskussion (wörtlich: Zerschlagung), sondern unbefangen durfte die Mitte sich zeigen. Anders als ein
physikalisches Prisma wirkt das geistliche in beiden Richtungen: Erst hat das gemeinsame Licht dank der Prisma-Transparenz die Sonderfarbe aus sich herausgelockt und sie dann, durch die akzeptierende Haltung der Gruppe,
wieder ins umfassende Ganze aufgenommen. Natürlich läßt solche Konzentration sich nicht beliebig lange durchhalten, deshalb bestand der zweite Teil des Abends aus einem Freundschaftsmahl mit irdischem Weißbrot,
himmelweisendem Rotwein und Käsewürfeln von der Kuh, dem holden Abbild der allnährenden Muttergöttin - eine ungeplante Gaumentrinität. Recht verschieden haben die einzelnen es erlebt, in der Mitte zu
sein. Der Selbstbewußtere genoß es, sich ungestört zeigen zu dürfen. Und doch befiel ihn eine neue Demut: Weil jeder Widerspruch kraft des Ritus ausgeschlossen war, deshalb fehlte - anders als im Alltag - das
Sieggefühl. Man mußte nicht kämpfen, brauchte darum die Gleichrangigkeit »derer am Rande« nicht zu verdrängen, so daß sie einem mit überwältigender Wucht ins Bewußtsein trat. Umgekehrt erging es der Schüchternen; war
sie nach langem Sträuben doch endlich auch einmal in der Mitte, dann durchflutete sie ein allzu selten so begeisternder Stolz: Alle nehmen mich an, ich darf sein, die ich bin. Kam bei bloß positiver
Einstellung aber nicht die Kritik zu kurz? Keineswegs. Beim freien Blick auf die besseren Seiten der anderen fehlte es nicht an Gelegenheiten, sich zu schämen. - Damit breche ich den Bericht ab; nähere Einzelheiten
interessieren hier nicht. Wie andere Lebensbaupläne wird auch das Prisma-Prinzip sich bei jeder Verwirklichung anders ausgestalten. Es ist fähig - soviel lehrt jene Erfahrung - eine kirchliche Gruppe mit Freundschaft
und einen Freundeskreis mit heilendem Sinn zu erfüllen. Deshalb mein Rat: Versuchen Sie es einmal mit dem Prisma-Prinzip, in der Familie, einer Schulklasse, einer Jugend-oder Gemeindegruppe, einem
Freundeskreis. Wesentlich sind der Kreis als Symbol der Ganzheit, eine Person in der Mitte, das Verbot der Widerrede und die Abwechslung (niemand darf stets nur Rand sein; als Kampf gegen Dauerverrandung ist das
Prisma-Prinzip ein Stück Befreiungstheologie). Dann muß der Kreis fragen und die Mitte antworten, beide im Bewußtsein: auch jetzt geschieht die Schöpfung. »Es werde« - spricht Gott - dieser Mensch da in der Mitte, das
glauben wir und lassen es ihn spüren. Alles weitere wird sich ergeben. »Der Geist weht, wo Er will« - doch leichter als in geschlossene weht Er in offene Fenster. [In memoriam Eva Weiß
und Heidi Spielhagen] Februar 1992 |